Industriebahn Wilthen — Kirschau
Streckengeschichte
Seit 1845 bestand in Kirschau die Textilfabrik der Gebrüder Friese. Die 1877 im Abschnitt Sohland - Wilthen eröffnete Staatsbahnstrecke führte in Sichtweite der Fabrikanlagen entlang - allerdings 50 m über dem Talgrund und somit unerreichbar für einen direkten Gleisanschluss. Für das wachsende Textilunternehmen bestand die Lösung in einer eigenen Anschlussbahn, wozu am 14.06.1900 ein Schreiben an die Kreishauptmannschaft Bautzen verfasst wurde: »Der Unterzeichnete sowie mehrere Fabrikanten von Kirschau müssen jetzt ihre mit der Staatsbahn auf Bahnhof Schirgiswalde ankommenden und daselbst abgehenden Güter auf der beschwerlichen Chaussee von Kirschau nach Schirgiswalde befördern. Um diesem Uebelstand abzuhelfen, beabsichtigen wir, eine mit Maschinenkraft zu betreibende, dem Güterverkehr dienende normalspurige Privatanschlußbahn von Kirschau nach Bahnhof Wilthen zu erbauen und die demnächstige Betriebsführung selbst zu übernehmen. [...]« Zu dieser Zeit lag bereits eine Planung der Dresdner "Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vorm. Schuckert & Co." vor. Beginnen sollte das Gleis im Bahnhof Wilthen nahe des Stellwerks I und stark fallend bis zu den Fabrikanlagen der Gebr. Friese im Kirschauer Talgrund führen. Dort waren ein Lokschuppen, eine Gleiswaage und ein Abortgebäude vorgesehen. Die Streckenlänge wurde mit 2,453 km angegeben, vermutlich gemessen ab dem Empfangsgebäude in Wilthen. Der Kostenanschlag vom Juni 1900 belief sich auf 205 000 Mark. Im Januar 1901 teilten die Gebr. Friese mit, dass aufgrund der Geschäftlage und der ausstehenden Einigung mit den Grundstücksbesitzern das Projekt auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Letztlich wurde der privat finanzierte Gleisbau am 25.11.1905 genehmigt: »Als höchste Zugsgeschwindigkeit wird mit Rücksicht auf die starken Gefälle von 1:40 und 1:27 der freien Bahn und die zahlreichen Wegübergänge eine Geschwindigkeit von 15 km in der Stunde zugelassen. [...]« Den Bauauftrag erhielt die Firma F. W. Philipp aus Löbau. Am 27.06.1907 erteilten die zuständigen Behörden offiziell die Betriebsgenehmigung, Züge sollen aber schon seit Juni 1906 gefahren sein. Im Jahr 1921 wurde das Textilunternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und verfügte zu dieser Zeit neben dem Stammwerk Kirschau über Zweigwerke in Sohland, Rosenhain bei Schluckenau/Böhmen (seit 1906), Callenberg und Aachen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entging die Gebr. Friese AG als größter Arbeitgeber der Region dank des Schweizer Hauptaktionärs der Verstaatlichung. Erst zum Jahresbeginn 1969 wurde die Fabrik in den "VEB Vereinigte Grobgarnwerke Kirschau" (VEGRO) eingegliedert, der die Werkbahn weiter betrieb. Hauptsächlich transportierte man zuletzt Braunkohle für das am 30.01.1981 in Betrieb genommene Heizwerk. Der Oberbau wurde noch 1989/90 erneuert, ein Jahr vor der Stilllegung. Ende 2000 fiel die Anschlussweiche im Bahnhof Wilthen dem Bahnhofsumbau zum Opfer. Mit einer Straßenbaumaßnahme wurden 2019 fast alle Gleisreste außerhalb des Werks beseitigt.
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Quellen
[1] Sächsisches Staatsarchiv - Hauptstaatsarchiv Dresden: Bestand 10736 Ministerium des Innern, Signatur 14294
[2] Sächsisches Staatsarchiv - Staatsfilialarchiv Bautzen: Bestand 50013 Amtshauptmannschaft Bautzen, Signatur 6516
[3] Wilthener Stadtanzeiger vom 10.05.2013
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